🪑 Die Lektion vom fehlenden Stuhl


Die Lektion vom fehlenden Stuhl

🪑 Ich grüße Sie heute aus dem flamboyanten, aber gemütlichen Wintergarten meiner beliebten lokalen Taquería. Die Wand ziert eine handgemalte Mexikokarte, um mich herum stehen Kakteen und an der Decke tanzen bunte Fähnchen im Luftzug. Ich könnte stundenlang nach oben schauen und immer neue Figuren im papel picado entdecken. An den Tischen wirkt das Ambiente deutlich ruhiger und nichts überladen. Die Stühle aus einem schönen, hellen Holz sind sehr bequem und laden zum Verweilen ein.

In diesem Brief geht es um Stühle – und um ein scheinbar harmloses Spiel, das mehr über unser Menschenbild verrät, als uns lieb ist.


📚 Bildung

In meiner Grundschulzeit wurde manchmal ein Spiel gespielt, das unter Liebhabern der Quälerei besonders en vogue zu sein schien und das Sie sicherlich auch kennen und verabscheuen: Reise nach Jerusalem. Bei diesem Spiel wird eine Gruppe von Kindern angehalten, um einen Stuhlkreis herumzulaufen, der leider genau eine Sitzgelegenheit zu wenig bietet. Die Lehre von Anfang an: Nicht jeder darf mitmachen und die Schwächsten fliegen zuerst raus.

Während die Kinder wie trainierte Zirkusaffen im Kreis laufen, hören sie Musik. Musik bringt sonst zusammen. Wenn wir singen, spielen oder tanzen, spüren wir, wie Musik uns in unserer Menschlichkeit verbindet. Bei diesem Spiel? Vergesst das, Kinder! Weh, man verliert sich in der Melodie: Ziel und Konkurrenz müssen stets im Auge behalten werden, denn sobald die erwachsene Autoritätsperson ohne Chance auf DJ-Karriere den Song willkürlich unterbricht, ist Krieg angesagt. Ein schneller Kampf jeder gegen jeden bricht aus, in dem sich die Mitstreiter eines Stuhls zu bemächtigen versuchen. Koste es, was es wolle. Schubsen, schieben, treten – alles schon gesehen, während sich die Kinder auf die Stühle stürzen. Solidarität? Süß, aber hier ist wörtlich kein Platz dafür.

Runde um Runde wird die Anzahl an Stühlen reduziert. Runde um Runde steht allein neben der sitzenden Traube ein Verlierer, Menschenopfer einer praktischen Lektion im Sozialdarwinismus. Wenige nehmen die Demütigung auf die leichte Schulter. Die meisten reagieren trotzig: Der erste geht weinend weg; die zweite lässt die langen Haare um die Schulter fliegen und behauptet sie habe eh nicht mitspielen wollen; der dritte bleibt mit einem Fünftel Pobacke auf dem Stuhl eines seinerzeitigen Freundes und beteuert vorlaut, er sei zuerst da gewesen. Es ist die Expo der Peinlichkeit.

Als schließlich nur noch zwei übrig bleiben, tänzeln sie ums Mobiliar wie Raubtiere um die Arena. Abstand, Geschwindigkeit, Fußposition – alles wird zur Strategie, um sich den letzten, hart erkämpften Platz zu ergattern. Die Musik stoppt. Hastige Füße flitzen zum Stuhl, die Beine schon halbgebeugt. Im Nu sitzt einer auf dem Thron. Last man stan-, ehm, sitting. Er hat es geschafft und will jetzt den Moment seiner triumphierenden Überlegenheit feiern! Doch ... auch er geht leer aus. Er schaut sich um: Das Publikum hat sich längst ausgedünnt und, wer bleibt, schenkt ihm bloß Wut, Neid und Resignation. Nur die erwachsene Autoritätsperson klatscht und lobt mit einem generischen ganz toll gemacht. Als sie das enttäuschte Gesicht des Siegers sieht, fordert sie auf: "Wir klatschen jetzt alle gaaanz doll für den Gewinner." Wenn das eine Lektion in Empathie werden sollte, wurde wohl das falsche Spiel ausgesucht.

Während ich mich tippend zurückerinnere, bringt mir die freundliche Kellnerin meine Bestellung. Sie hat einen starken deutschen Akzent, aber meine huevos divorciados schmecken trotzdem hervorragend. Zwei Spiegeleier je auf einer grünen und einer roten Soße, schön scharf und schmackhaft, durch Bohnenmus getrennt.

Der Stuhlkampf scheidet friedliche Gruppen. Ich frage mich, wie es sich im realen Leben – ohne Lehrer und absurde Regeln – abspielen würde.


🏛️ Latein

Der Bildungsbegriff ist oft von einem negativen Menschenbild geprägt. Zum Beispiel schrieb Kant:

Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.
Kant, Über Pädagogik.

Wir brauchen Erziehung, weil wir unser Potenzial zur Moralität erst dadurch entfalten. Auch wenn wir uns lateinische Entsprechungen für den Begriff Bildung ansehen, schneidet der Mensch mit seiner ursprünglich tierischen Natur nicht besonders gut ab. Denn wie sagt man Bildung auf Latein?

  • Eine Möglichkeit ist eruditio mit dem Präfix e(x)- 'heraus-' und rudis 'grob, roh': Bildung macht fein und kultiviert.
  • Humanitas bezeichnet das, was ferinitas ('Tiersein') in Menschlichkeit verwandelt: die Feinbildung, die nicht bloß auf den Einzelnen einen großen Einfluss hat, sondern unser Leben in einer zivilen Gemeinschaft erst ermöglicht.
  • Der notwendigerweise erteilte Unterricht heißt disciplina. Dieses Substantiv bezeichnet allgemein die 'Art der Unterweisung', aber auch metonymisch die einzelnen Fächer, wie deutsch Disziplin.

Wenn Sie weitere Entsprechungen entdecken wollen, lesen Sie gerne den Artikel Was ist Bildung? Ausgehend vom Lateinischen.

Jedenfalls zeigen die Entsprechungen, ob direkt oder indirekt, den Menschen als defizitäres Wesen, das ohne Unterricht und Erziehung nicht erfolgreich in die Gesellschaft integriert werden kann. Der zugrundeliegende Gedanke lautet: Ohne Erziehung würde sich Kinder bei Reise nach Jerusalem um einen Stuhl zerfetzen.

Der Mensch braucht Regeln und Gesetze, die seine Freiheit einschränken, damit er nicht die Freiheit seines Nächsten überrumpelt. So erklärt Cesare Beccaria, aufklärerischer Vordenker im Strafrecht, im berühmten Traktat De' delitti e delle pene ('Von Verbrechen und Strafen') den Ursprung von Gesetzen : Sie sollen dazu dienen, den despotischen Geist eines jeden zu zähmen, damit die Gesellschaft nicht ins Chaos abrutscht.

Doch wäre es wirklich so?


💎 Selbstverwirklichung

Wie benehmen sich eigentlich Kinder, wenn sie frei handeln dürfen und sich Erwachsene nicht einmischen? Ich habe als Mutter interessante Beobachtungen über unsere Spezis machen dürfen. Die bei weitem beeindruckendste erlebte ich am 6. Geburtstag meiner Tochter.

Ich hatte keine Lust auf überzuckerte Kinder, die unsere damalige Miniwohnung auf den Kopf stellen würden. Daher entschied ich mich für eine weitgehend zuckerfreie Feier – mit Ausnahme des Kuchens (unmenschlich bin ich ja auch wieder nicht).

Als Erstes wurde Monopoly Junior gespielt. Da sagte ein Kind: "Oh nein, ich habe kein Geld mehr." Und prompt ein anderes: "Hier, nimm meins. Guck, ich hab doch ganz viel." Dann musste ein drittes bezahlen und dasjenige, das kassieren sollte, meinte nur: "Ach, gib mir 2 Scheine. Das reicht mir." Es wurde eine kleine Zahl gewürfelt? "Mach noch mal. Komm, das nächste Mal schaffst du eine Sechs!" Ein Kind ging auf Toilette? Man sorgte dafür, dass es bei der Rückkehr mehr Geld vorfand als vorher.

Monopoly als nettes Kooperationsspiel? Das hätte ich mir bis dahin beim besten Willen nicht vorstellen können. Nun... wer mich kennt, weiß: Ich sehr kompetitiv. Ich will nicht (und kann schlecht) verlieren. Es hat mich große Mühe gekostet, mich nicht einzumischen, um auf die Regeln zu pochen – und auf die Tatsache, dass Monopoly auf diese Weise schlicht nie enden würde. Ich biss mir auf die Zunge und beschloss, das Ganze als soziales Experiment zu betrachten.

Wann das Spiel endete? Als die Kinder keine Lust mehr hatten. Da reichte ein "Ich habe keine Lust mehr. Ihr?" – "Wir auch nicht. Lasst uns aufräumen." Einfach so können auch bei Monopoly alle gewinnen. Später teilten sich alles Kinder am Basteltisch zwei Scheren und den einen Klebestift kameradschaftlich und machten sich gegenseitig Komplimente über die gelungenen Kreationen. Es war unerhört. Dieser Geburtstag war eine surreale und gleichzeitig herzerwärmende Erfahrung.

Ohne Zucker waren alle Kinder zuckersüß. Nie habe ich eine nettere, gesittetere Menschentraufe erlebt als diese. Und was wäre passiert, wenn bei dieser Truppe in einem Sitzkreis ein Stuhl gefehlt hätte? Ich bin mir sicher, es wäre ganz unspektakulär gewesen: Schnell zusammengerückt hätten sie das noch stehende Kind herzlich aufgenommen.

Das gibt mir Hoffnung.

Wenn Sie sich auch nach einem positiveren Menschenbild sehnen, das Hoffnung gibt, lege ich Ihnen die Lektüre von De meeste mensen deugen (deutscher Titel: Im Grunde gut) von Rutger Bregman ans Herz. Denn vielleicht brauchen wir weniger Disziplinierung und mehr Vertrauen in unser angeborenes Potenzial als soziale Wesen.


Zusammenfassend:

📚 Ein scheinbar harmloses Spiel zeigt, wie der Mensch im System zu kurz kommt.

🏛️ Der Bildungsbegriff gründet auf einem defizitären Menschenbild.

💎 Ein Kindergeburtstag erinnert uns daran, dass Hoffnung auf das Gute im Menschen berechtigt ist.

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Bequeme Grüße
Ihre Silvia

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Silvia Ulivi

Für Menschen, die sich nach echter Bildung sehnen, und den Mut haben, den Status quo zu hinterfragen.

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