🐉 Von Drachentötern und persönlichen Monstern


Von Drachentötern und persönlichen Monstern

🐉 Ich begrüße Sie am Georgstag! 🐉

Ich sitze heute nicht wie sonst an meinem Schreibtisch, der zum Garten hinaus zeigt, sondern auf unserer Terrasse vor der Küche. Der Frühling ist da und macht keinen Hehl daraus: Der Blauregen wird mit jeder Stunde ein Stückchen lilafarbener, der Kirschbaum (eine Prunus cerasifera nigra) hat seine rosa Blüten bereits durch tiefrote Blätter eingetauscht und ein Fruchtbaum in voller weißer Blüte summt vor lauter bestäubenden Insekten bis hierher.

Heiterer Himmel, wärmende Sonne, zwitschernde Vögel – ein denkbar ungeeigneter Tag, um über die angekündigten Ungeheuer zu schreiben. Und doch ist vielleicht gerade dieser lichte Frühlingstag, der uns an die Monster erinnert, die wir nicht sehen wollen und lieber im Verborgenen halten möchten.

In dieser Ausgabe geht es um:

📚 den Heiligen Georg samt einer unbeliebten Meinung zum Religionsunterricht,

🏛️ einen antiken Monstertöter, der selbst zum Monster wird, und

💎 eine sehr persönliche Begegnung mit einem meiner eigenen Dämonen.


📚 Bildung

Die "ungeheure" Idee für diesen April-Newsletter kam mir, als ich mit einem Mitarbeiter einer Firma, die mich neulich beauftragt hat, sprach. Er kommt nämlich aus Katalonien, wo die Diada de Sant Jordi am 23. April zu den meist gefeierten Tagen des Jahres gehört. Das ist wohl ein romantischer Tag, an dem man sich rote Rosen und Bücher schenkt. Daran könnte ich mich schnell gewöhnen.

Ich muss zugeben, dass ich von Sankt Georg bis heute bloß die Ikonographie kannte – Georg, der Dachentöter zu Pferd. Irgendeiner dieser unzähligen Märtyrer, die man schon mal gehört hat; Patron von vielen Ländern und Städten; dazu einer, den man so einfach identifiziert, um im Museum von dem einen oder anderen Bild mit nonchalanter Geste selbstgefällig und wichtigtuerisch "Sankt Georg" postulieren zu können. Wenn man richtig geübt ist, kann man's derart dahin sprechen, dass es sich anhört, als verstecke sich noch viel Schlaues hinter der Sentenz – meist jedoch eine unglaubwürdige Fassade wie in einem Westernfilm, hinter der sich unendliche, trockene Leere ausdehnt. Dabei sind das doch Dinge, die man kennen muss, oder?

Mir fällt das Büchlein Bildung. Europas kulturelle Identität ein, das Manfred Fuhrmann kurz vor seinem Tod vor mittlerweile 20 Jahren bei Reclam zum Glück noch veröffentlichen konnte. Ich identifiziere mich nämlich sehr mit Fuhrmanns Darstellung der europäischen Identität als Konstrukt, das auf zwei Säulen basiert: dem antiken und dem christlichen Kanon. Man kann Europas kulturelle Identität nicht verstehen, wenn man sich nicht mit der griechisch-römischen Antike einerseits und dem Christentum andererseits beschäftigt.

Das gilt auch für säkularisierte Kreise.

Das gilt auch für alle nicht-christlichen Einwanderer.

Das gilt eben für alle, die Europas kulturelles Erbe nachvollziehen wollen.

Mich lässt der Eindruck nicht los, dass sich viele Europäer mehr damit beschäftigen, andere aufzunehmen und zu respektieren, als sich selbst zu verstehen. Das hat soziale und politische Konsequenzen. Beschäftigt man sich nicht fundiert mit der eigenen Identität, bleibt oft nur die Abgrenzung als Mittel zur Selbstdefinition. Die drohende Alterität wird dann zur Projektionsfläche für Unsicherheiten und Ängste: Der Andere wird zum Ungeheuer.

Ich denke gerade an den Religionsunterricht. Ich muss zugeben, dass ich nicht verstehe, warum man sich als in Europa lebender Nicht-Christ vom Religionsunterricht abmelden sollte. Gerade für Menschen anderer Religionen macht es doch Sinn, durch den Religionsunterricht die eine kulturelle Säule Europas kennenzulernen. Dasselbe gilt für deutsche Atheisten oder bekenntnisfreie Schulen. Der Verzicht auf christlichen Religionsunterricht ergibt in meinen Augen absolut keinen Sinn.

Wie sehen Sie das? Ich bin sehr gespannt, ob noch jemand so denkt... denn ich hatte schon immer den Eindruck, ich sei mit dieser Meinung ziemlich alleine, obwohl es mir doch bloß um ein kollektives Verständnis des γνῶθι σεαυτόν geht.

Aber zurück zu Sankt Georg.

Ich musste herzlich lachen, als ich las, dass Sankt Georg am Ende des 3. Jahrhunderts in Lydda eine persische Räuberbande vernichtet haben soll, deren Anführer Nahfr ('Drache') genannt wurde. Erst 1000 Jahre später verbreitete sich nämlich die Legende mit dem echten Drachen – eine Geschichte, die unweigerlich an bekannte Episoden der griechischen Mythologie, wie Perseus' Kampf gegen Ketos, denken lässt. Die schöne Prinzessin Andromeda muss dem Meeresungeheuer Ketos geopfert werden, weil Poseidon ihrer Mutter zürnt; doch siehe da! Ein Held! Perseus besiegt das Monster, schnappt sich die Prinzessin und sie verlieben sich auf der Stelle. Supi. So ähnlich ergeht es eben auch Sankt Georg, nur mit einer Rieseneidechse statt einem Riesenfisch. Außerdem ist Georg pathologisch passive aggressive und befreit das menschliche Tribut erst, als der König das ganze Dorf taufen lässt. Naja.


🏛️ Latein

Poseidon zürnte eines Tages auch einer weiteren hochmütigen Königin, die als Strafe ein berühmtes Monster gebar: den Minotauros. Wie es eben mit Ungeheuern so ist, will man sich meist sehr ungerne mit ihnen beschäftigen. Also ließ der König Minos das verschlungenste Labyrinth der Welt von Daedalus erbauen, in dessen Mitte er den Minotauros einsperren ließ. Doch haben bedauerlicherweise just die Ungeheuer, die wir am liebsten einer immer blasser werdenden Vergangenheit überlassen möchten, die ärgerliche Eigenschaft, nicht vergessen werden zu wollen. Sie fordern dann regelmäßig Tribute von uns und drohen ständig, wieder herauszukommen, wo wir sie doch nur allzu gerne verdrängen möchten!

So war es auch mit dem Minotauros, für den alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen aus Athen nach Kreta hermussten, um ihm im Labyrinth zum Fraß gegeben zu werden. Eines Tages ging jedoch der Königssohn Theseus als Tribut mit, der mithilfe der verliebten Ariadne das Ungeheuer besiegen und den Irrgarten wieder verlassen konnte. "Ja, klar heirate ich dich, wenn du mir hilfst.", war Theseus' leichtsinniges Versprechen gewesen, um sich den Ariadnefaden zu erschmeicheln. Und tatsächlich nahm er diese auch mit, als er gen Athen zurücksegelte – zumindest für die halbe Strecke bis Naxos, wo er sie des Nachts verließ.

Wunderschön ist Ovids 10. Brief der Heroides, in dem die verzweifelte Reaktion der zurückgelassenen Prinzessin nach dem Aufwachen auf Naxos zu lesen ist.

Nullus erat. Referoque manus iterumque retempto
perque torum moveo bracchia: Nullus erat.


'Keiner da. Ich strecke die Hände aus, versuche es noch mal und fahre mit den Armen über das Lager: Keiner da.'

Der Monstertöter ist selbst zum Monster geworden:

Mitius inveni quam te genus omne ferarum.

'Keine Bestie war mir je grausamer als du.'

Die Verse sind voller Anspannung und Verzweiflung. Ariadne kann sich kaum noch tragen, schleppt sich jedoch völlig aufgelöst irgendwie auf einen Hügel, von dem aus sie aufs weite Meer hinausschaut. Ob sie Theseus' Schiff noch erblickt? Sie schreit. Sie bewegt sich wild. Sie versucht, wahrgenommen zu werden. Doch Theseus und seine Mannschaft sind weg. Kurzweilig scheint Ariadne immer wieder klar denken zu können. Schauen Sie sich zum Beispiel diese Alliterationen mit mmh in einem parallel gebauten Vers an, als ob sie gerade kühl über ihre Ausweglosigkeit nachdenken würde:

Multae mihi terrae, multa minantur aquae.
Caelum restabat. Timeo simulacra deorum.

'Viel droht über Land, viel über Meer. Es bleibt der Himmel, aber ich fürchte mich vor den Göttern.'

Sie denkt hier so strukturiert wie der erfindungsreiche Daedalus, doch sie ist schlauer, denn sie bewahrt ihre Gottesfurcht! Ähnlich war nämlich Daedalus' Überlegung gewesen, die zum Tod seines übermütigen Sohnes Ikarus führte:

'Terras licet' inquit 'et undas
obstruat: et caelum certe patet; ibimus illac:
omnia possideat, non possidet aera Minos.'
"Er kann Land und Meer versperren, der Himmel bleibt aber offen. Den Weg schlagen wir ein. Mag Minos doch alles besitzen, so ist er nicht Herr der Lüfte."
(Ovid, Metamorphoses 8.185ff.)

Ariadne kann ihre Lage paradoxerweise besser einschätzen. Der letzte Aufruf, abgeholt zu werden, ist schließlich nur noch von Resignation geprägt:

Flecte ratem, Theseu. [...]
Si prius occidero, tu tamen ossa feres.

'Wende das Schiff, Theseus. Wenn ich vorher umkomme, bring wenigstens meine Gebeine heim.'

Es geht dann doch noch gut aus für Ariadne und man könnte lange weitererzählen... mit dem Mythos kommt man ja so herrlich von Hölzchen auf Stöckchen!


💎 Selbstverwirklichung

Die Geschichte vom Minotauros bringt uns Vieles bei, was wir auch über unsere inneren, metaphorischen Monster wissen sollten. Monster haben demnach drei Eigenschaften:

  1. Selbst wenn wir sie einsperren und zu verbergen versuchen, muss man sich früher oder später mit ihnen auseinandersetzen.
  2. Sie fordern nämlich von uns regelmäßig Tribute.
  3. Manchmal machen sie aus uns ebenfalls Ungeheuer.

Diese drei Monster-Regeln haben sich mir eingebrannt und ich erkenne sie heute an vielen Stellen meines eigenen Lebens wieder. Ein persönliches Monster von mir, das ich jetzt, wo ich 40 Jahre alt bin, mich also im mittleren Alter befinde und langsam Frieden mit mir selbst schließen darf und sollte, habe ich mit größter Mühe gezähmt. Ich habe viele Jahre versucht, es zu ignorieren, zu disziplinieren, zu verbergen. Doch wie das mit Monstern so ist! Sie lassen sich nicht einfach in einem stillen Winkel des Labyrinths wegsperren. Irgendwann kommen sie wieder ans Licht. Mein Monster nenne ich mal Binging, also die Neigung, Dinge exzessiv zu treiben.

Nun verbindet man Binging meistens mit Binge-Eating, manchmal auch mit Binge-Drinking oder Binge-Watching. Bei mir gab es auch Binge-Working, Binge-Daydreaming, Binge-Learning, Binge-Exercising, Binge-Anything really. Wenn ich etwas gemacht habe, dann krankhaft viel auf einmal... bis ich gecrasht bin und mich einigeln musste, um mich zu erholen. Jedes Mal habe ich gezahlt: mit Einsamkeit, mit Scham, mit Panikattacken. Die Tribute kamen zuverlässig und wurden mit der Zeit immer kostspieliger.

Nach wie vor merke ich, obwohl ich viel mehr Balance gefunden habe, ab und zu ein paar Überbleibsel dieses Verhaltens. Zuletzt habe ich es wieder erlebt, als ich in kürzester Zeit einen Rhetorikkurs für eine Firma vorbereiten musste: Tag und Nacht wie besessen gearbeitet, dann zwei Tage lang nichts. Ich kenne das Muster. Ich merke es inzwischen früh und es reicht schon, um gegenzusteuern.

Einer der wesentlichen Impulse, die mir geholfen haben, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, kam von Julia Camerons The Artist's Way. Wenn ich nur ein einziges Buch aus meiner kleinen privaten Bibliothek behalten dürfte, fiele die Wahl zweifelsohne auf dieses. Dank der Morning Pages habe ich entdeckt, wie heilsam es für mich ist, mir täglich Zeit zum Schreiben zu nehmen. Seit ich die Schule verlassen habe und selbstständig arbeite, bin ich ja Herrin meiner Zeit. Ja, ich arbeite viel – unter der Woche und auch am Wochenende –, aber ich kann dabei auf meinen eigenen Rhythmus hören. Und der ist: slow-paced!

Meine Tage beginnen in gedeihlicher Stille vor Sonnenaufgang mit den Morgenseiten. Danach ein Spaziergang im Grünen, bevor ich mich an den Schreibtisch in der wohltuenden Atmosphäre meiner liebevoll eingerichteten Bibliothek setze. Ich wähle meine Projekte selber aus und nehme mir täglich gezielt mehrere Stunden zum Schreiben. Das bringt mich zur Ruhe.

Dank des Buchs The Artist's Way habe ich endlich verstanden, wie langsam ich das Leben wirklich angehen muss, damit es mir gut geht. Ich kann mit Hektik nichts anfangen, denn sie löst sofort das alte Binging bei mir aus. Manchmal eben sozusagen Binge-Feeling: zu viele Affekte, zu stark, auf einmal. Es kommt ein Wirrwarr an Emotionen hoch, durch das ich mich kaum hindurchfinde, und ich verliere die Kontrolle. Es ist zu viel. Dann wirke ich komisch auf andere. Ich selbst bin dann irgendwie zu viel.

Um mich zu beruhigen, kannte ich lange keine andere Strategie als Rauchen, Essen und Trinken. Und ja, das funktioniert – erstaunlich gut sogar! Leider kann man allerdings nicht gezielt nur die Gefühle dämpfen, die man nicht aushält. Mit der Zeit wird alles betäubt. Man wird stumpf, zum apathischen Monster. 2008 habe ich aufgehört zu rauchen. 2017 habe ich aufgehört zu trinken. Mit Reflexionsfragen und Selbstreglementierung – Was ist zu viel? Was ist angemessen? Wann erlaube ich es mir? – kam ich nicht weiter. Ich wollte den Konsum nicht managen müssen. Ein schöner Nebeneffekt: Seitdem entwickle ich neue Strategien, um mein Gleichgewicht zu sichern. Und die Schriftstellerin in mir konnte endlich herausbrechen!

Solche Verhalten sind wie die menschenfressende Monsterpflanze Audrey II im Musical Little Shop of Horrors. Sie versprechen, das Leben einfacher zu machen, fordern dabei immer größere Tribute und wachsen derart, dass sie nicht mehr zu managen sind. Das Blut, das sie verlangen, nimmt je nach Menschen unterschiedliche Gestalten an: Drogen, Essverhalten, Social Media, Alkohol, übermäßiges Arbeiten, zwanghafte Verhalten, Porno u.v.a.m. Haben Sie vielleicht auch ein Ventil, das sie gänzlich zumachen sollten?


Bei meiner Lektüre habe ich schließlich erfahren, dass Sankt Georg, der den Drachen als Symbol des Bösen bezwang, als Helfer gegen Versuchungen angerufen wird. Na also! Vielleicht ist der 23. April nicht nur ein Tag für Rosen und Bücher, sondern auch ein guter Moment, um über unsere Monster zu sprechen. Und darüber, wie man mit der Zeit lernt, ihnen mit mehr Milde und weniger Drama zu begegnen. Zusammenfassend:

📚 Wird der Fremde zum Ungeheuer, wenn wir unsere kulturelle Herkunft nicht kennen?

🏛️ Wer ist das wahre Monster: der Minotauros oder Theseus?

💎 Was hilft dabei, innere Dämonen zu zähmen und Frieden mit sich selbst zu schließen?

Schreiben Sie mir gerne Ihre Gedanken, Geschichten und Anregungen.

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Im Mai-Newsletter wird es um 🐦 Vögel gehen.

Monströse Grüße
Ihre Silvia

P.S.: "Sollte ich Job wechseln?" – Diese Frage musste ich mir mehrfach stellen. Dabei habe ich einige Tools für mich entwickelt, die mir weitergeholfen haben. Ich arbeite gerade daran, diese Tools in einem Bundle zusammenzustellen, damit sie Ihnen auch weiterhelfen können. Ich halte Sie auf dem Laufenden.

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Silvia Ulivi

Für Menschen, die sich nach echter Bildung sehnen, und den Mut haben, den Status quo zu hinterfragen.

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