🌺 Keine Blüte ohne Rückschnitt


Keine Blüte ohne Rückschnitt

🌺 Hallo zusammen! 🌺

Der Frühling steht vor der Tür – eine Zeit des Aufbruchs und des Wachstums. Doch bevor blühende Pracht erstrahlen kann, braucht es Mut zur Schere, denn entschlossene Rückschnitte sind notwendig, damit neue Triebe ihre Vitalität entfalten.

Wie im Garten, so im Leben. In dieser Ausgabe teile ich mit Ihnen,

💎 warum es zu meiner Entscheidung kam, die Universität zu verlassen,

📚 wie unser überreguliertes Schulsystem von einem radikalen Rückschnitt profitieren würde und

🏛️ dass wir uns mit literarischen Blütezeiten immer trösten können.


💎 Selbstverwirklichung

In meinem Garten liegen gerade noch Schneereste, doch der blauheitere Himmel und die gelbhelle Sonne lassen die Gedanken in Richtung Frühling schweifen. Ich kann es kaum erwarten, den erquicklichen Anblick rosaroter Rosen, weißer Hortensien und gelber Ginsterblüten vom Schreibtisch aus zu genießen.

Doch um den Garten zum Blühen zu bringen, müssen wir ordentlich zurückschneiden. Denn nur durch einen gründlichen Rückschnitt können sich kräftige Triebe und eine atemberaubende Blütenpracht entfalten.

So ist es auch oft mit unserer Karriere und unserem Werdegang.

Wie einige von Ihnen bereits wissen, begann mein Weg an der Universität. Dann wechselte ich an die Schule, bis ich schließlich auch diese Institution verließ, um mich selbstständig zu machen. Jeder Fortschritt war ein Rückschnitt – und Mann oh Mann, hatte ich Angst, dass alles verwelken würde!

Die Universität enttäuschte mich schnell. Zwar begegnete ich einigen geschätzten Kollegen, von denen ich viel lernen konnte, doch das System scheint mir geprägt von ineffizienten Prozessen, fragwürdigen Bewerbungsverfahren, einer Gehaltlosigkeit der meisten Publikationen und der zunehmenden Verschulung der Lehre.

In der Auswahlkommission für einen Lehrstuhl hatte ich eine ernüchternde Erfahrung. Am Tag vor dem Vorsingen rief mich ein Kommissionsmitglied an und schlug vor, sich abzusprechen, damit alles "in unserem Sinne“ verlaufe – und der beste Kandidat sei doch eindeutig soundso. Da dachte ich: "Warum doppelt arbeiten? Besprechen wir das nicht einfach morgen?" Es stank. In der Kommission vertrat ich meine Meinung – wie naiv von mir! – und bekam einen Shitstorm, der mich zum Schweigen brachte. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter hängt das Leben schließlich vom Professor ab. Alle stimmten für den "besten" Kandidaten.

Nach dem Treffen kam eine Professorin zu mir, umarmte mich und gab zu, sie sei meiner Meinung gewesen. Ich konnte ihr nicht böse sein, denn sie liebt ihre Forschung über alles. Ich sah: Dafür musste sie viel in Kauf nehmen. In diesem Augenblick der Verbundenheit wurde mir bewusst, dass es Zeit für eine Trennung war. An diesem Abend tröstete mich nicht die warme Umarmung, sondern das kühle Klackern der Tastatur: Ich verfasste meine Kündigung.

Großer Schmerzdruck für große Veränderungen: Wie im Garten muss man auch im Leben den letzten Frost abwarten, bevor man radikal zurückschneiden kann – und dieser Rückschnitt ist immer ein Akt des Mutes. Dann heißt es, mit einer scharfen Zange entschlossen zuzupacken, um einen sauberen Schnitt zu erzielen. Das tote Holz muss weg.

Man schneidet jedoch nicht willkürlich, sondern überlegt – immer schräg und knapp über einer Knospe, damit der neue Trieb wachsen kann. Überwindet man die Angst, etwas falsch zu machen, wird man mit einer herzerfrischenden Blütezeit belohnt.

Um schwierige Entscheidungen wie eine Kündigung oder einen Studienwechsel zu treffen, muss man verstehen, was die eigenen Werte sind und wofür man bereit ist, Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Bei mir herrscht über alles andere der Wunsch nach Autonomie, Erfüllung und Kreativität. Ich nehme finanzielle Unsicherheit gerne in Kauf, wenn ich dafür selbstbestimmt agieren kann.

Wie sieht es bei Ihnen aus?

Vielleicht stehen Sie auch an einem Wendepunkt, an dem abgestorbene Äste entfernt werden müssen:

  • Warten Sie den "letzten Frost" ab, bevor Sie sich von Altem trennen, das einen Rückschnitt braucht?
  • Wo könnten Sie mit einem klaren, mutigen Schnitt Raum für Wachstum und neue Chancen schaffen?
  • Was könnte passieren, wenn Sie den Mut aufbringen, diesen Schritt zu gehen?

📚 Bildung

Uni und Schule musste ich persönlich aus meinem Leben zurückschneiden, weil mir da Autonomie gefehlt hat. Es ist offensichtlich, dass Schulen und Universitäten sich selbst nicht mehr vertrauen. Ständig wird mit zusätzlichen Regularien, Protokollen, Standardisierungen versucht, ein faules System zu retten. Mit Verwaltungsaufgaben überwuchert werden die Institutionen, die doch Orte individuellen und kollektiven Wachstums, kreativer Entfaltung und kritischen Denkens sein sollten.

Ein paar Beispiele aus der Schule:

  • Zeitfressende Zwangsfortbildungen
  • Dokumentationspflicht für jeden Pups
  • Korsettartige Standardisierungen
  • Inkonsistente, verkomplizierte und – natürlich – verpflichtende Evaluationsraster
  • Lernentwicklungsgespräche, die zusätzlich terminiert, vorbereitet und protokolliert werden müssen
  • Verpflichtende Maßnahmen zur Medienkompetenz in jedem Fach
  • Verpflichtende Maßnahmen zur Nachhaltigkeit in jedem Fach
  • Zahlreiche Lehrerkonferenzen, die nie enden und nichts bringen
  • Fragwürdige Maßnahmen zur Schülerbeteiligung – als ob sie plötzlich die Didaktik übernehmen müssten
  • Noch mehr Lehrerkonferenzen, um Verhalten von Schülern einzudämmen, die mit ihrer grenzlosen Freiheit nicht umgehen können (wie etwa in diesem Artikel geschildert)
  • und und und

Kommt Ihnen etwas davon bekannt vor?

Blickt hier überhaupt noch jemand durch? Anstatt mal zurückzuschneiden, fügt man immer wieder Dünger hinzu – und wundert sich dann, wenn nur noch ein Haufen Mist da ist.

Als ich neulich auch noch von Pornokompetenzseminaren in der Schule erfahren habe, habe ich als Mutter den unweigerlichen Drang gespürt, in ein Land ohne Schulpflicht auszuwandern.

Doch bleiben wir bei den Lehrern. Schüler sollen zunehmend aktiviert werden und möglichst selbst bestimmen. Selbstwirksamkeit fördere Entfaltung und Motivation.

Warum gelten ähnliche Standards nicht für Lehrer? Warum müssen Lehrer immer bloß umsetzen, was von oben kommt? Ich verstehe, dass Beamte Richtlinien umsetzen sollten, aber dieses irrsinnige Micromanagement hilft niemandem. Das zeigt eher, wie viel Misstrauen die Institution gegen sich selbst und ihre Hauptakteure hegt.

Dabei wissen wir aus der Natur: Für eine prachtvolle Blüte braucht es regelmäßig einen mutigen Rückschnitt. Manchmal muss man – wie bei Rispenhortensien – zeitig und besonders kräftig zurückschneiden! Was wäre es,

  • wenn in Bildungsinstitutionen weniger Vorschriften wären?
  • wenn Lehrkräfte mehr Entscheidungsfreiheit darüber hätten, wie und was sie unterrichten?
  • wenn weniger Bürokratie da wäre?
  • wenn man sich vor allem auf das Hauptgeschäft der Institution konzentrieren würde? Auf den Unterricht in der Schule? Auf Lehre und Forschung an der Uni?

Was machen Schulen stattdessen, um sich zu profilieren? Eine schnelle Googlesuche nach Schulen zeigt es Ihnen: MINT-Programme, Austausche, Exkursionen, Berufstage, Präventionen, Resilienz...

Ganz ehrlich: Ich hätte gerne Schulen, die von sich behaupten können: "Unser Leitbild ist geprägt von einem verdammt guten Unterricht." Wie wäre es mal damit?!

So wie eine Pflanze Raum und Licht braucht, um zu blühen, brauchen Menschen Luft zum Atmen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

  • Wie viel besser wären Schulen ohne unnötigen Ballast und überbordende Bürokratie?
  • Wie viel besser wären Schulen, wenn Lehrer mehr Autonomie und weniger Hektik hätten?
  • Wie viel besser wären Schulen, wenn der Fokus auf gutem Unterricht läge?

Doch keiner wird einen mutigen Rückschnitt wagen und ich fürchte, das System wird vor lauter verfaulten Ästen implodieren.

Mir bleibt nur noch der Trost der schönen Literatur...


🏛️ Latein

Denkt man an literarische Blütezeiten, führt kein Weg an der augusteischen Zeit vorbei – einer aurea aetas, geprägt von stilbildenden Autoren, deren Werke durch ihre Vollkommenheit und Vorbildfunktion nachträglich als klassisch gelten müssen.

Eine solche maßgebende Vollkommenheit wäre ohne einen dezidierten Rückschnitt undenkbar. Ich habe schon im Februar-Newsletter verraten, wie sehr ich Vergil liebe. Nehmen wir also diesmal die Georgica als Beispiel.

Hesiod sowie römische Schriftsteller wie Lukrez und Terentius Varro dienen Vergil als Vorbild. Diese vereint Vergil jedoch mit einer solchen Meisterschaft und geistreichen Kreativität (wie wir heute sagen würden), dass ein ganz individuelles und einmaliges Werk entsteht.

Trotz der beachtlichen Länge schafft es Vergil zudem, dem Werk eine alexandrinische Note zu verleihen, wie wir etwa an der Komposition erkennen. Das Lehrgedicht besteht aus vier Büchern:

  1. zur Landwirtschaft
  2. zur Baumpflege
  3. zur Viehzucht
  4. zur Imkerei

Wir erkennen in der Komposition eine Bewegung von groß zu klein. Dabei wird der nötige menschliche Einsatz – labor omnia vicit improbus ('rastloser Fleiß besiegte alles' 1.145f.) – immer geringer bis hin zu einer bloßen Betrachtung der faszinierenden Bienenarbeit: admiranda levium spectacula rerum ('bewundernswerte Schauspiele der kleinen Dinge' 4.3).

Inhaltlich bilden sich zwei Bücherpaare: I-II Pflanzen, III-IV Tiere. Doch die Proömien (zwei ausführliche und zwei knappe) und der Ton der Degressionen (zwei negativere und zwei positivere) zeigen zwei andere Bücherpaare: I-III und II-IV.

  1. Ausführliches Proömium
    Negative Degression: Bürgerkriege 1.463-514
  2. Knappes Proömium
    Positive Degression: Lob des Landlebens 2.458-540
  3. Ausführliches Proömium
    Negative Degression: Norische Tierseuche 3.474-566
  4. Knappes Proömium
    Positive Degression (endet in der Bugonie): Aristaeus- und Orpheus-Mythos 4.315-558

Stärker als die alexandrinische Dichtung bietet das Lehrgedicht viel mehr als gekonnte Kunstspiele, sondern wird, indem es Gegebenheiten und Exempla aufzeigt, zur ethischen Lehre. Vergil will nicht nur unterhalten und seine Bravour zur Schau stellen, sondern auch moralisch bilden. Das Große liegt dann im Kleinen:

Nec sum animi dubius, verbis ea vincere magnum
quam sit et angustis hunc addere rebus honorem

'Und ich zweifle im Inneren nicht, wie groß es ist, diese Themen mit Worten zu fesseln und kleinen Dingen Würde zu verleihen.'

Verg., Georg. 3.289f.

Vergil schöpft zwar aus Quellen und Vorbildern, öffnet jedoch das Lehrgedicht durch das italische Setting und die Thematisierung der Bürgerkriege für den politischen Diskurs und die Behandlung der augusteischen renovatio.

So schafft es Vergil, durch gezielten Rückschnitt Raum für Neues zu schaffen und ein unvergessliches Meisterwerk zu verfassen – eine klare Lektüreempfehlung von mir, über die noch sehr viel zu sagen wäre. Doch weder möchte ich noch kann ich alles ausführen:

Non ego cuncta meis amplecti versibus opto,
non, mihi si linguae centum sind oraque centum,
ferrea vox.


'Ich wünsche nicht, alles mit meinen Versen zu umfassen,
nicht einmal wenn ich hundert Zungen und hundert Münder hätte
und eine Stimme aus Eisen.'

Verg. Georg. 3.42ff.

Zusammenfassend: Man muss den letzten Frost aushalten, bevor man radikal zurückschneidet, um einen Garten zum Blüten zu verhelfen.

💎 Was braucht in Ihrem Leben einen entschlossenen Rückschnitt, um neue Triebe zulassen zu können?

📚 Was könnte man getrost im Schulsystem alles zurückschneiden, um sich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren?

🏛️ Wie erblüht aus Vorbildern Vergils Meisterwerk?

Schreiben Sie mir gerne Ihre Gedanken, Geschichten und Anregungen zu Bildung, Latein und Selbstverwirklichung und sagen Sie mir, welche Themen Sie für die nächsten Newsletter interessieren würden.

Im April-Newsletter wird es um Ungeheuer 👹 gehen.

Blumige Grüße
Ihre Silvia

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